Artikel aus dem EXTRA Lexikon

Warum sprechen Menschen?
Neueste Erkenntnisse auf der Suche nach einem "Sprach-Gen"

© Peter Markl

Die Nachricht von der Entdeckung eines spezifisch menschlichen "Sprachgens", das die Menschen eigentlich erst zu Menschen machen soll, war zwar - so, wie sie durch die Medien geisterte - offensichtlich fragwürdig, aber doch eine der wichtigsten wissenschaftlichen Meldungen während der sommerlichen Nachrichtenflaute. Aus einem Max-Planck-Institut stammend, wurde der Fund vor allem in Deutschland als eine wissenschaftliche Sensation angekündigt: da war ein Thema, dessen Faszination sich nur wenige entziehen können: Warum können Menschen sprechen, Schimpansen aber nicht? Und da war Wolfgang Enard, über den in der "Zeit" ein zeitgeistig durchgestylter, gnadenlos lockerer Artikel zu lesen war: 31 Jahre alt, "verstrubbelte Antifrisur, unentschiedener Nicht-mehr-Stoppelbart", Besitzer von sechs Gitarren, Spätaufsteher, in München vier Jahre lang mit zwölf Anderen in einer Nobelwohnung lebend, ein "reines Paradies", das aussah "wie Sau", was die Mutter, der die Wohnung gehörte, "schweinecool" hinnahm.

Man fragt sich, wie der Typ die wissenschaftliche Knochenarbeit zustande gebracht hat, welche hinter dem Resultat steht, aber ein Blick auf die Originalarbeit beruhigt: da stehen neben dem "Wolfie" noch sieben weitere Autoren - vier wie Enard vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und drei vom Wellcome Trust Centre for Human Genetics der Universität Oxford, die sich bereits jahrelang mit diesem heißen Thema beschäftigen.

Anfänge der Evolution

Was sie herausgefunden haben, ist tatsächlich ein Meilenstein auf der Suche nach einer Erklärung für die Evolution der menschlichen Sprache - ein Thema, das schon einmal, nämlich im vorletzten Jahrhundert, so in Mode war, dass es sich die Societè linguistique de Paris 1866 entschieden verbat, weiter mit mehr oder minder fantasiereichen, aber empirisch nicht überprüfbaren Geschichten darüber behelligt zu werden.

Jetzt aber sind die Fragen der Evolutionsgeschichte der menschlichen Sprache in die Reichweite der empirischen Methoden der Genanalytik und evolutionären Genetik gekommen. Was Enard und seine Kollegen herausgefunden haben, ist ein weiterer erster Schritt in ein Gebiet, das etwas von den faszinierenden Anfängen der evolutionären Prozesse erhellen wird, welche die Menschen erst zu Menschen machten.

Es geht um jene Periode in der Evolutionsgeschichte, in der sich die genetischen Grundlagen der Prozesse entwickelt haben, welche dazu führten, dass sich - von gemeinsamen Ahnen unter den damaligen Affen ausgehend - die Entwicklungslinien in Richtung auf Schimpansen und Menschen trennten. All das muss sich in der "Tiefenzeit" ereignet haben, über die es nur wenige und indirekte Belege gibt, vor allem, weil die interessanten Prozesse wie die Evolution kognitiver Fähigkeiten kaum Spuren hinterlassen haben.

Michael Tomasello, einer der beiden Direktoren des Leipziger Instituts und einer der führenden Experten für die kognitiven Fähigkeiten von Primaten und Menschen, ist der Ansicht, dass die Entwicklung der menschlichen Sprechfähigkeit und die Sprache, die von der Sprache anderer Primaten grundlegend unterschieden ist, die wichtigsten Triebkräfte zur Evolution spezifisch menschlicher kognitiver Fähigkeiten sind, weil sie die Prozesse des kulturellen Lernens und damit die weitere, spezifisch menschliche Evolution erst möglich machten.

Man hat in den letzten 30 Jahren erbittert darüber gestritten, wie die Fähigkeit, sprechen zu lernen, in den Genen fixiert ist. Behavioristen vertraten die Ansicht, dass daran wirklich nichts Besonderes ist: ihrer Ansicht nach lernen Menschen genau so sprechen, wie sie auch jede andere Fähigkeit erlernen können: Kinder werden belohnt, wenn sie richtig sprechen, und korrigiert, wenn sie Fehler machen. Wenn Menschen sich von Schimpansen unterscheiden, dann nur, weil sie im Allgemeinen eine größere Lernfähigkeit haben; und die ist - neben der motorischen Steuerung der Sprachorgane - alles, was im Genom festgeschrieben ist.

Generative Grammatik?

Noam Chomsky und seine Anhänger aber vermuten, dass die spezielle angeborene Sprachkompetenz von Menschen auf die Existenz eines spezifischen "Sprachorgans" im menschlichen Hirn zurückgeht, vergleichbar einem "Sprachchip" in einem Computer, in dem die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen, bis zu einem gewissen Grad fest verkabelt ist. Die zur Entwicklung dieses "Sprachorgans" benötigte Information ist in einem funktionalen Netzwerk von Genen niedergelegt, nach deren Anleitung ein neuronales Netzwerk gebaut wird, in dessen Vernetzungsmuster bestimmte grammatikalische Regeln - eine allgemeine "generative Grammatik" - abgebildet ist, so dass schon ein Kind mit dieser generativen Grammatik geboren wird und damit auch mit der Fähigkeit, sehr schnell irgendeine Sprache zu erlernen.

Chomsky selbst war erstaunlicherweise nie an der Evolution dieses "Organs" interessiert und er hätte, als er 1959 seine Vermutung von der Existenz einer generativen Grammatik ausarbeitete, darüber auch nur spekulieren können. Heute aber stehen genanalytische Methoden zur Beschaffung empirischer Belege zur Verfügung - was lange Zeit fehlte, war nur ein Patient, dessen Sprechstörungen eindeutig genetisch bedingt waren.

Das änderte sich 1990, als in Oxford ein Mann auftauchte, dessen Sprachstörungen eindeutig genetisch bedingt waren, weil sie auch bei anderen Familienmitgliedern auftraten. Heute, nach zehn Jahren Forschung, kennt man die mittlerweile berühmt gewordene "KE-Familie" genau, weil man ihre 31, aus drei Generationen stammenden Familienmitglieder eingehend untersucht hat: 15 von ihnen leiden unter einer ganz spezifischen Sprechstörung, die Anthony P. Monako, einer aus dem Oxforder Team, so beschreibt: "Sie sprechen, als ob es ihre Seele kosten würde, die Laute hervorzubringen. Sie kämpfen damit, ihre Lippen und Zungen zu kontrollieren, Worte zu bilden und anscheinend auch damit, Grammatik zu verstehen und anzuwenden. Für den naiven Zuhörer ist ihr Sprechen fast unverständlich."

Auch heute sind sich die Experten allerdings noch nicht darüber einig, was die eigentliche Ursache der Sprechschwierigkeiten ist. Manche sehen in ihnen vor allem Schwierigkeiten bei der motorischen Feinabstimmung der Sprechorgane, die wenig mit der Beeinträchtigung höherer kognitiver Fähigkeiten, wie sie der Sprache zugrunde liegen, zu tun haben. Sie weisen darauf hin, dass die betroffenen Mitglieder der KE-Familie über ihre motorischen Schwierigkeiten hinaus auch eine etwas beeinträchtigte allgemeine Intelligenz haben dürften - nichts Dramatisches und immer noch an den unteren Grenzen des Bereichs jenes Intelligenzquotienten, den man als normal ansieht.

Man findet die Skeptiker vor allem unter denjenigen, die Chomskys Vermutung von der Existenz eines "Sprachorgans" sehr kritisch gegenüberstehen. Martin Novak, aus Wien stammend und heute am Institute for Advanced Studies in Princeton arbeitend, findet, dass "man nicht, wie Chomsky, daran glauben muss, dass es spezialisierte, spezifisch menschliche Sprachstrukturen im Hirn gibt: Ich glaube nicht, dass es Gene nur für menschliche Sprache gibt - eher Gene, welche Hirnstrukturen aufbauen, die dazu führen, dass die Kinder etwas erwarten. Es ist unmöglich, dass man eine Sprache erlernt, wenn man nicht durch neuronale Hirnstrukturen darauf vorbereitet ist". Und Michael Tomasello vermutet, dass das, was in Menschen genetisch angelegt ist, die Fähigkeit ist, mit Bedeutung tragenden, aber abstrakten Symbolen umzugehen: das ist es, was Menschen von anderen Tieren unterscheidet und die rasche kulturelle Evolution der Menschen ermöglicht hat: "Die Grammatik ist bereits ein soziales Produkt."

Fahndung nach einem Gen

Das Team in Oxford hat jedenfalls bald die Fahndung nach jenem Gen (oder jenen Genen) aufgenommen, deren Funktion in den betroffenen Mitgliedern der KE-Familie beeinträchtigt ist - immer in der Hoffnung, dass man, sobald das Gen identifiziert worden ist, auch das Protein kennen würde, das nach der im Gen niedergeschriebenen Bauanleitung gebaut wird, und mit dem Protein durch den Vergleich mit ähnlich strukturierten, bereits bekannten Proteinen auch Hinweise darauf bekomme, welche Funktion dieses Protein hat und wie sich eine Störung dieser Funktion auswirken würde.

Der Erbgang der Sprechstörung innerhalb der KE-Familie ließ das Chromosom erkennen, auf dem die genetische Störung lokalisiert war. Von da an war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis man mit dem ganzen Arsenal der heutigen Genanalytik das defekte Gen aufgespürt haben würde. 1998 hatte man bereits ermittelt, dass das defekte Gen auf Chromosom 7 in einer SPCH1 getauften Region lag, wo man auf Grund der Daten aus dem Human Genom Projekt etwa 70 Gene vermutete.

Dann kam schlichtes Glück zur Hilfe: Man fand nämlich einen weiteren Patienten, einen kleinen Jungen, CS, der an sehr ähnlichen Störungen litt. Jetzt war es möglich, die verdächtige Genregion im Genom von CS mit der von betroffenen Mitgliedern der KE-Familie und nicht sprachgestörten Menschen zu vergleichen. Das hat die genanalytische Knochenarbeit bei der Fahndung nach dem Gen um ein bis zwei Jahre vergekürzt. Im Oktober 2001 hatte man dann das FOXP2 getaufte Gen identifiziert: man fand es in mutierter Form bei KE- und als Resultat eines anderen Mutationsmechanismus auch beim CE-Patienten, nicht aber im Genom von 364 normalen Menschen. Die krank machende Mutation ist eine Punktmutation: eine einzige Nucleotid-Base, nämlich Guanin, wurde durch Adenin ersetzt, was zum Bau eines Proteins führte, an dem man an einer bestimmten Stelle nicht Histidin, sondern Arginin findet. Das Protein ist ein Transkriptionsfaktor - eine Klasse von Proteinen, welche den Prozess steuern, in dem von der im Gen festgeschriebenen genetischen Information eine Arbeitskopie angefertigt wird, durch welche die genetische Information in Form der Basensequenz eines Boten-RNA-Moleküls für die Proteinsynthese verfügbar gemacht wird. Dazu Cecilia S.M. Lai aus dem Oxforder Team: "Die von der Mutation Betroffenen haben zu einem kritischen Zeitpunkt ihrer fetalen Entwicklung nur eine intakte, funktionstüchtige Kopie dieses Transkriptionsfaktors - zu wenig, um einige Aspekte der frühen Hirnentwicklung steuern zu können". Es scheint, als ob Menschen zwei intakte Kopien des Gens brauchen, um lernen zu können, eine normale Sprache zu sprechen.

Der nächste Schritt lag auf der Hand und es war auch klar, dass kein Institut auf der Welt besser darauf vorbereitet war, als das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, wo es die Arbeitsgruppe von Svante Pääbo gibt, die im Hinblick auf den Einsatz genanalytischer Verfahren zur Klärung der Evolutionsgeschichte wahrscheinlich von keiner anderen Arbeitsgruppe auf der Welt übertroffen wird. Wenn sich Menschen von Schimpansen nicht zuletzt durch ihre Sprechfähigkeit unterscheiden und das FOXP2-Gen dabei eine wesentliche Rolle spielt, dann musste seine Etablierung in den menschlichen Populationen während der jüngsten Phase der Evolution der Menschen Resultat eines starken Evolutionsdrucks gewesen sein und das FOXP2-Gen musste sich von den analogen Genen mehr oder minder nah verwandter Primaten unterscheiden.

Das Leipziger Team hat die analogen Genstrukturen von Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans, Rhesus-Affen und Mäusen analysiert und - um Anhaltspunkte für die Variation dieser Genregion innerhalb menschlicher Populationen zu erhalten - mit Hilfe komplizierter statistischer Methoden mit den Daten von rund einhundert Menschen verglichen. Man fand, dass es einen starken Selektionsdruck in Richtung auf Erhaltung intakter FOXP2-Gene gegeben haben muss: die FOXP2- Proteine von Schimpansen, Gorillas und Rhesus-Makaken sind alle identisch. Sie unterscheiden sich in nur einem Nucleotid-Baustein von den FOXP2-Genen der Maus und an zwei Stellen vom menschlichen FOXP2-Gen. Während der etwa 130 Millionen Jahre, welche die gemeinsamen Vorfahren der Menschen und Schimpansen von den Mäusen trennen, gab es nur eine einzige Aminosäure Substitution im FOXP2-Protein.

Mutation vor 200.000 Jahren

Ganz anders verlief die Entwicklung, seit die Evolutionslinien von Menschen und Schimpansen vor etwa 4,6 bis 6,2 Millionen Jahren auseinander zu laufen begannen: In der Entwicklungslinie zu den heutigen Menschen traten zwei zusätzliche Mutationen auf, keine einzige dagegen auf dem Weg zu den Schimpansen oder zu anderen Primaten. (Die Orang Utans sind eine Ausnahme: da findet man eine weitere Mutation.) Das Leipziger Team hat auch mit (nicht unumstrittenen) genstatistischen Methoden versucht abzuschätzen, wann in den menschlichen Populationen die eine, letzte Mutation fixiert worden sein könnte, und kommt zum Schluss: "Unsere Methoden legen nahe anzunehmen, dass die letzte Mutation während der letzten 200.000 Jahre der menschlichen Geschichte fixiert wurde. Und das heißt, etwa zur gleichen Zeit mit dem Auftauchen anatomisch moderner Menschen oder kurz danach. Das stimmt ganz gut mit einem Modell der menschlichen Evolution überein, nach dem die Triebkraft der Expansion der Menschen eine Verbesserung der Fähigkeit war, sprechen zu können. Es ist allerdings noch zu klären, ob FOXP2 darüber hinaus auch mit den grundlegenden Aspekten menschlicher Kultur etwas zu tun hat. Der Weg zu einer Antwort führt über den Vergleich der normalen Funktion des FOXP2-Proteins von Menschen und Schimpansen."

Literatur:

Lai, C.S.L., Fisher, S.E., Hurts, J.A.,Varga-Khadem, F-, Monako, A.P.: A forkhead-domain gene is mutated in a severe speech and language disorder. "Nature" 413 519 - 523 (2001).

Enard W., Przeworski, Molly, Fisher, S.D.E., Lai, Cecilia, Wiebe, S.L., Kitano, T., Monaco, A S.P., Pääbo, S.: Molecular evolution of FOXP2, a gene involved in speech and language. "Nature" 418, 869 - 872 (2002).

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